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Baby und Partnerschaft: Vom Paar zum Elternpaar

Ein Kind gibt dem Leben eines Paares eine völlig neue Richtung. Dr. Valentina Anderegg, Psychologin und eidg. anerkannte Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Affoltern am Albis, weiss um die Veränderungen, die auf ein Paar zukommen, und wie sie aufgefangen werden können.

Frau Dr. Anderegg, welche Veränderungen und Umstellungen machen einem Paar nach der Geburt des ersten Kindes am meisten zu schaffen?
Dr. Valentina Anderegg*: Schwierig zu sagen, denn diese Phase ist sehr vielschichtig und von Fall zu Fall verschieden. Ein Paar, das Schichtarbeit gewöhnt ist, wird vergleichsweise keine allzu grossen Schwierigkeiten haben, wenn es in der Nacht geweckt wird und nach dem Kind schauen muss. Viele junge Eltern belastet – vor allem nach der Geburt des ersten Kindes – das Gefühl, während 24 Stunden für ein kleines Geschöpf verantwortlich und andauernd verfügbar sein zu müssen. In der ersten Phase der Elternschaft müssen eigene Bedürfnisse häufig zurückgestellt werden und es ist kaum möglich, sich im Voraus auf solch einen Zustand vorzubereiten. Nicht mehr rasch noch ein Telefon machen, nicht mehr in Ruhe frühstücken oder spontan etwas unternehmen zu können: Derartige Veränderungen lösen oft ein unangenehmes Gefühl des «Angebundenseins» aus.

Die Geburt eines gesunden Kindes ist fraglos ein grosses Geschenk. Kann es vorkommen, dass eine Frau anfänglich Mühe hat, die mütterlichen Glücksgefühle zu entwickeln, die von ihr erwartet werden?
Ich nehme an, dass – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Medien – in vielen Köpfen bestimmte Vorstellungen herumgeistern, wie sich ein Mami oder ein Papi nach der Geburt des Kindes zu verhalten oder gar zu fühlen hat: Nämlich unentwegt glücklich und in der festen Überzeugung, dass das Lächeln des Babys ein Elternpaar für alles entschädigt, was es an Aufwand und Verzicht leisten muss. Diese Vorstellung von Absolutheit kann junge Eltern verunsichern. Und nach einer anstrengenden Nacht fragen sie sich möglicherweise völlig übermüdet, ob es vielleicht doch nicht so eine gute Idee gewesen sei, sich ein Kind zu wünschen …

Und die erschöpft junge Mutter scheut sich davor, sich jemandem anzuvertrauen?
Ja, denn sie ist eben von Idealvorstellungen umgeben und hat vielleicht nicht den Mut, auf dem Spielplatz zu einer anderen Frau zu sagen: «Heute ist ein schlimmer Tag, ganz ehrlich, im Moment bereue ich es, ein Kind zu haben.» Aus diesem Grund rate ich jungen Eltern, an Elterntreffs oder ähnlichen Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen man sich ganz unverblümt äussern und etwa auch fragen kann: «Was machst du denn, wenn du frustriert bist, weil dein Kind in der Nacht immer unruhig ist?» In der Werbung werden entzückende Babys gezeigt, die ihre ebenfalls glückstrahlende Mutter anstrahlen, die sich für die eindeutig richtige Windelsorte entschieden hat. Und die Väter, die sind nie genervt, verdrehen nie frustriert die Augen zum Himmel, sondern sind fröhlich, ausgeglichen, liebevoll und immer hilfsbereit zur Stelle.

Was geht in einer jungen Mutter vor, die das Bild der englischen Herzogin Kate vor sich hat, die wenige Stunden nach der Geburt perfekt rank, schlank und attraktiv ihren Baby-Prinzen präsentierte?
Sie sollte sich ganz schnell vergegenwärtigen, dass diese Frau und auch andere prominente Damen höchstwahrscheinlich von einer Schar von Helfern und Unterstützern umgeben sind. Jene Welt hat mit unserer Realität eher wenig zu tun. In meiner Praxis versuche ich, Akzeptanz für die aktuelle Situation zu schaffen und auch bewusst zu machen: «Die Veränderung vom Beginn der Schwangerschaft bis zur Geburt hat 40 Wochen gedauert. Schenken Sie sich jetzt selbst ein gewisses Mitgefühl und lassen Sie Ihrem Körper, aber auch Ihrer Psyche Zeit, sich zu regenerieren.»

Kommt es vor, dass der bekannte, hormonell bedingte Wochenbett-Baby-Blues in eine Depression übergeht, die womöglich erst spät erkannt wird?
Bei jungen Eltern ist es häufig nicht leicht, festzustellen, ob eine Schlafproblematik mit allgemeiner Ermüdung zu tun hat oder als Beginn einer depressiven Störung erkannt werden muss. Konzentrationsprobleme können ebenfalls auf eine Depression hindeuten. Aber wenn Eltern chronisch zu wenig Schlaf bekommen, ist eine Minderung der Konzentrationsfähigkeit eine durchaus verständliche Folge. Die Studien äussern sich unterschiedlich, fest steht dagegen, dass das Risiko für eine Depression im Anschluss an die Wochenbettphase grösser ist, wenn ein Elternteil schon früher eine Depression erlebt hat. Ein weiterer Faktor, der eine Depression fördern kann, ist soziale Isolation: Die Frau hat wenig soziale Kontakte und kaum eine ihr freundschaftliche verbundene Person, die feststellen würde, dass es ihr nicht gut geht und sie Hilfe braucht.

Was halten Sie vom Thema «Baby-Krise der jungen Väter», von dem neuerdings die Rede ist?
Tatsächlich wird nun auch vermehrt die Situation der Väter wahrgenommen – nachdem aus naheliegenden medizinischen Gründen vor allem die Mütter und deren biologische Veränderungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt im Vordergrund standen. Der Übergang in die Vaterschaft hinterlässt auch bei einem Mann Spuren, selbst wenn sie nicht so offensichtlich sind wie bei einer Frau. Der junge Vater erlebt, wie sich die Prioritäten verschieben, wie sich alles um das Kind dreht und eigene wie auch partnerschaftliche Bedürfnisse ganz weit in den Hintergrund geraten. Wichtiger als seine Anliegen oder seine Befindlichkeiten als Mann sind die Bedürfnisse des Kindes. Dieser grundlegende Szenenwechsel und die erforderlichen Anpassungsleistungen können für einen Mann, aber ebenso für eine Frau, sehr energieraubend sein.

Haben manche Paare nach der Geburt des ersten Kindes Schwierigkeiten, sich sexuell wieder aufeinander einzustimmen?
Die körperlichen Veränderungen bei der Frau können schon gewisse Herausforderungen zur Folge haben. Welche Stellung ist beim Sex während der Schwangerschaft geeignet? Erfordern geburtsbedingte Verletzungen zunächst besondere Vorsicht? Eine Geburt ist für die Frau wie für den Mann ein gewaltiges und einschneidendes Ereignis. Sie kann ein sehr schönes und vielleicht sogar harmonisches Erlebnis sein, aber es kann auch zum unerwarteten Hereinbrechen von unangenehmen Gefühlen kommen. Die Nachbesprechung der Geburt und ebenso die Neubelebung der sexuellen Beziehung erfordern den Mut zum offenen Gespräch und gegenseitiges Verständnis.

Der Übergang von der Zweisamkeit zur Dreisamkeit kann schwierig sein?
Häufig erlebe ich, dass Paare unausgesprochene Erwartungen und Vorstellungen mit sich herumtragen – die dann zum Problem werden, wenn man sie nicht äussert. Während der Schwangerschaft hat sich eine Frau vielleicht vorgestellt, wie sie mit dem Kind zu Hause den Tag verbringt, das Nachtessen kocht und dass ihr Mann pünktlich nach Hause kommt. Die Realität kann aber anders aussehen: Der Mann arbeitet länger, verspätet sich, die Frau ist enttäuscht – schon ist die Missstimmung da und es kommt vielleicht zum Streit.

Einmal mehr scheint Kommunikation eine wichtige Rolle zu spielen?
Gewiss, jeder sollte versuchen, dem anderen mitzuteilen, was erwartet wird, was fehlt oder was man sich wünscht. Wichtig ist überdies ein hohes Mass an Flexibilität bezüglich der nötigen Absprachen: Wie werden in nächster Zeit Berufsarbeit und Hausarbeit geteilt? Wer übernimmt was? Wie organisieren wir die Einkäufe, das Kochen? Bringen wir das Kind gemeinsam zum Kinderarzt? Wie stehen wir mit den Grosseltern in Kontakt? Wer steht in der Nacht auf, wenn das Kind weint? Derartige Abmachungen sind jedoch nicht in Stein gemeisselt. Die Situation, aber auch die Bedürfnisse der beteiligten Personen können sich verändern und deshalb sollte man sie in regelmässigen Abständen überprüfen und sich nach Bedarf neu einstellen.

Der Wechsel vom Paar zum Elternpaar kann als partnerschaftliches Übungsfeld erlebt werden?
Ich habe vom Mut gesprochen, den es braucht, um sich als Paar neu zu finden. Dieser Mut wird aber belohnt: Wenn es gelingt, die durch die Elternschaft hervorgerufenen Veränderungen gemeinsam anzunehmen und sich als Paar nicht zu verlieren, dann ist dies wie eine bestandene Reifeprüfung. Und in diesem Sinne ein gutes Fundament für das Leben als Paar und als Elternpaar.

*Dr. Valentina Anderegg ist Psychologin und eidg. anerkannte Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Affoltern am Albis (www.psychologie-anderegg.ch).