Deutsch

Emotionaler Hitzestau: Einen kühlen Kopf bewahren

Heftige Hitze hat zuweilen nichts mit sommerlicher Temperatur, sondern mit dem emotionalen Klima zu tun. Prof. Dr. Mathias Allemand kennt die psychologischen Hintergründe und Zusammenhänge.

Herr Professor Allemand, unter einem «Hitzkopf» versteht man einen aufbrausenden, jähzornigen Menschen. Gehört der Hitzkopf in die Kategorie «Choleriker»?
Prof. Dr. Mathias Allemand*: Der Begriff Choleriker hat mit der in der Antike entwickelten Lehre von den unterschiedlichen Körpersäften zu tun. Die moderne Persönlichkeitsforschung verwendet ihn nicht mehr und entfernt sich so von einem Schubladensystem, das Menschen strikt einordnet. Sie zieht vielmehr stärkere oder schwächere Ausprägungen in Persönlichkeitsmerkmalen in Betracht. Was den Hitzkopf anbelangt: Ihm fehlt es an Impuls- und Selbstkontrolle. Er hat Mühe, sich zu beherrschen und ist möglicherweise von einer latenten Aggressivität besetzt.

Ist dieses Grundmuster genetisch vorgegeben oder im Laufe des Lebens veränderbar?
Es wäre ja traurig, wenn wir nicht zu Veränderungen fähig wären. Ungefähr fünfzig Prozent unserer Persönlichkeit sind genetisch bedingt. Darüber hinaus üben jedoch Erziehung, Sozialisierungsfaktoren, Lebensereignisse, Beziehungen und das Zusammenleben in einer Gemeinschaft ihren Einfluss aus. Fühlt man sich in seiner Wesensart von anderen Menschen akzeptiert, wirkt sich dies positiv aus. Viele Forschungsergebnisse zeigen, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens verändern kann, und zwar bis ins hohe Alter.

Schon bald nach Ausbruch der Corona-Epidemie zeigte es sich, dass viele Menschen in der Lage waren, sich mit gutem Willen und Kreativität der schwierigen Situation anzupassen. Ist diese Anpassungsfähigkeit von Dauer oder wird sie nach einigen Monaten wieder verschwunden sein?
Auf diese spekulative Frage gibt es keine eindeutige Antwort, weil beide Entwicklungen möglich sind. Die Krise hat bei einigen Menschen ein Bedürfnis nach Veränderung der Persönlichkeit ausgelöst. Eine Studie, die wir kürzlich publiziert haben, weist darauf hin, dass eine selbstgewählte Veränderung der Persönlichkeit auch kurzfristig möglich ist. Per SMS wurden beispielsweise einer Gruppe Vorschläge für Verhaltensänderungen und das Erreichen von selbst gewählten Zielvorgaben übermittelt. Es hat sich gezeigt, dass innerhalb von vierzehn Tagen positive Verhaltensänderungen stattfinden können. Ob eine Langzeitwirkung möglich ist, wird sich weisen. Im Allgemeinen sind wir schon geneigt, an Gewohnheiten festzuhalten.

Besteht immerhin Hoffnung, dass durch die Krise angestossene, positive Veränderungen überlebensfähig sind?
Die Krise hat uns die Möglichkeit geboten, neue Verhaltensweisen zu testen. Die Frage ist nun, wie die Veränderung empfunden wird. Für den einen ist eine bestimmte Situation belastend, ein anderer kommt damit gut zurecht – und so können sich veränderte Umstände sowohl positiv als auch negativ auswirken. Auf jeden Fall hat die krisenhafte Situation angeregt, über uns und allenfalls notwendige Verhaltensänderungen nachzudenken.

Es ist anzunehmen, dass sich während der vergangenen Wochen und Monate in vielen Menschen Wut, Zorn und auch Verzweiflung abgelagert hat. Wie kann diese emotionale Last wieder abgebaut werden?
Auf diese Frage gibt es wiederum keine eindeutige Antwort. Für die einen kann schon das Gespräch mit einem Mitmenschen entlastend sein und ihm deutlich machen, dass es nicht nur eine negative Sichtweise, sondern weitere Perspektiven gibt. Für die anderen ist ein Gespräch überhaupt keine Hilfe; ihnen bringt vielleicht sportliche Betätigung Erleichterung: Sport kann ein gutes Ventil sein, um Stress und negative Gefühle in Schranken zu halten. Die Psychotherapie kennt viele «Werkzeuge», die bei der Bearbeitung von Wut und Aggressionen eingesetzt werden können. So etwa das Training der Problemlösungsfähigkeit, Neubewertung der Situation, Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem usw. Es ist jedoch nicht leicht, zu lernen, wie man einen kühlen Kopf bewahren kann. Wilhelm Busch hat nicht zu Unrecht gereimt: «Bist du wütend, zähl bis vier. Hilft das nicht, dann explodier.» Man sollte ein Problem erst mal etwas absacken lassen und nicht sofort explodieren. Aber das gelingt eben nicht immer, wir sind alle nur Menschen.

Jemandem, der sich in einem emotionalen Hitzestau befindet, ist mit Ermahnungen wie «Bleib cool» oder «Reg dich doch nicht gleich so auf» wenig gedient?
Ja, derartige Anweisungen können erst recht zum Zorn reizen. Es kann aber durchaus sein, dass jemand, der um seine Neigung zu Wutausbrüchen weiss, sogar signalisiert: «Hey, warnt mich, wenn ich im Begriff bin, die Kontrolle zu verlieren.» Grundsätzlich kommt es – c’est le ton qui fait la musique – darauf an, wie und in welchem Ton man einen wutentbrannten Menschen zu Ruhe mahnt.

Wie kommt es, dass Menschen, die als Fels in der Brandung und als personifizierte Gelassenheit gelten, bei bestimmten Gelegenheiten geradezu tobsüchtig reagieren?
Bei manchen Menschen ist die negative Emotionalität sehr schwach ausgebildet, sie neigen zu Gelassenheit und sind weniger ängstlich. In Stresssituationen können sie förmlich aufleben. Rastet jemand, angeblich die Ruhe selbst, völlig unerwartet heftig aus, hat diese Person vermutlich die Rolle des Felsens in der Brandung nicht aus seinem innersten Wesen heraus übernommen. Möglichweise hat er sich nur bemüht, die ihm zugeordnete Rolle möglichst gut auszufüllen.Ich bin der Meinung, dass von Grund auf ruhige und gelassene Menschen auch in Extremsituationen relativ gelassen bleiben. So ein Phänomen unterstützt die Akzentuierungshypothese: In der Konfrontation mit aussergewöhnlichen Situationen kommen unsere automatischen Verhaltens- und Erlebnistendenzen erst recht zum Vorschein.

Wirkt ein Wutausbruch nicht manchmal auch wie ein reinigendes, der Gesundheit zuträgliches Gewitter?
Es kann durchaus sein, dass es entlastend wirkt, wenn man mal so richtig Dampf ablässt. Die Frage ist bloss, in welcher Form dies geschieht. Hat der Ausbruch mit einem ganz speziellen Ereignis zu tun? Oder sind heftige Wutausbrüche eine Persönlichkeitstendenz, die bedrohliche Formen annehmen können? Die Forschung hat gezeigt, dass die bewusste Disziplinierung der Emotionen in vielen Fällen hilfreich sein kann – so etwa im Arbeitsumfeld. Andererseits ist die ständige Unterdrückung von negativen Gefühlen oder das Verdrängen von positiven Gefühlen der Gesundheit nicht zuträglich. In diesem Sinne kann ein Gefühlsausbruch die Funktion eines erfrischenden Sommergewitters haben.

Mit welchen alltagstauglichen Methoden kann ein emotionaler Hitzestau abgebaut werden?
Meditation oder Achtsamkeitsübungen sind Techniken, die beim Umgang mit Wut, Angst oder Unsicherheit Hilfe bieten können. Wer genau weiss, welche Situationen bei ihm zu starken Gefühlsreaktionen führen, sollte versuchen, ihnen auszuweichen oder sie zu verändern. Entlastung findet auch statt, wenn man lernt, sich gegen eine bestimmte Situation nicht sinnlos aufzulehnen, sondern sie zu akzeptieren. Aber alle diese Methoden kann man nicht in der Hitze des Gefechts einfach abrufen, sondern man muss sie trainieren und mit ihnen vertraut werden. Positiv wirkt sich übrigens auch das Training der Dankbarkeit aus: Das dankbare Wahrnehmen der kleinen Alltagsgeschenke, die das Leben uns zu bieten hat, lenkt die Aufmerksamkeit von sich und seinen Herausforderungen ab und hin zu Dingen, Menschen oder Situationen, die als Geschenk wahrgenommen werden.

* Prof. Dr. Mathias Allemand, Assistenzprofessor, ist am Psychologischen Institut der Universität Zürich mit dem Forschungsschwerpunkt Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsdynamik und am Universitären Forschungsschwerpunkt Dynamik Gesunden Alterns tätig.