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Erziehung: Auf die Signale des Kindes achten!

Viele Eltern wollen für die Entwicklung ihres kleinen Kindes das Beste und übersehen manchmal das wirklich Wesentliche. Prof. Dr. med. Oskar Jenni macht auf massgebende Leitlinien aufmerksam.

Herr Professor Jenni, die ersten vier bis sechs Lebensjahre eines Kindes sollen für sein ganzes späteres Leben prägend sein. Richtig oder bloss ein Ammenmärchen?
Prof. Dr. med. Oskar Jenni*: Ich würde nicht von Ammenmärchen, sondern von einem Missverständnis sprechen. Es ist wichtig, dass das Kind seine ersten Lebensjahre in einer Umgebung verbringen darf, die ihm Sicherheit vermittelt, ihm Geborgenheit und Zuwendung gibt und seine Grundbedürfnisse nach Nahrung und körperlicher Gesundheit abdeckt. Ein in der Gesellschaft weitverbreitetes Missverständnis geht davon aus, dass ohne sehr frühe und aktive Förderung eine bedeutungsvolle Hirnentwicklungsphase des Kindes ungenutzt bleibe. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Mensch im Verlaufe seiner ersten zwanzig Lebensjahre weitere wichtige Phasen durchläuft und dass wir uns generell das ganze Leben lang entwickeln und dazulernen.

Wie können Eltern dem Kind Sicherheit vermitteln, wenn es mit Fremdbetreuung zurechtkommen muss?
Kinder, die sehr stark an ihre Eltern gebunden sind, können unter grossen Trennungsängsten leiden. Eine solche Situation erfordert von den Bezugspersonen viel Geduld, vielleicht muss das Kind während längerer Zeit im Kita-Alltag von den Eltern begleitet werden. Es kann aber auch vorkommen, dass ein Kind einfach noch nicht reif genug ist, um längere Zeit ohne die Bezugspersonen zu sein, oder dass sein Bedürfnis nach Geborgenheit derart gross ist, dass man eine andere Lösung suchen muss, etwa mit einer Tagesmutter oder einer Nanny, die ins Haus kommt. Zwang hat in solchen Fällen keinen Sinn.

Auf welche Weise können berufstätige und zeitlich ausgelastete Eltern den Begriff Beziehungsqualität erzieherisch umsetzen?
Beziehungsqualität bedeutet die Art und Weise des Zusammenspiels zwischen Eltern und Kind und die Feinfühligkeit, mit der die Bedürfnisse des Kindes von den Eltern wahrgenommen und mit ihren eigenen Vorstellungen und Erwartungen in Einklang gebracht werden. Ein wichtiger Teil der Beziehungsqualität ist die Fähigkeit der Eltern, auf die Signale des Kindes zu achten, sie gleichsam zu lesen. Dies gelingt auch berufstätigen Müttern und Vätern, wenn sie sich trotz aller Auslastung mit ihren Kindern achtsam auseinandersetzen.

Von vielen Seiten werden Eltern mit dem Thema «Frühförderung» beschallt. Wie sollen sie damit umgehen?
Frühförderung ist ein Begriff aus der Heilpädagogik. Es geht dabei um Kinder, die unter bestimmten Störungen leiden. In den letzten zwanzig Jahren wurde dieser Begriff zunehmend bei allen Kindern angewendet. Die Gesellschaft geht stillschweigend von einem veralteten Entwicklungsmodell aus, das besagt, dass ein Kind fast alles lernen kann, wenn es nur didaktisch richtig angeleitet wird. Dieses Modell ist nachweislich falsch. Entwicklung ist ein ausserordentlich komplexer Prozess, der nicht linear verläuft, vom Kind aktiv in einem engen Zusammenspiel mit der Umwelt gelenkt wird und den wir als Erwachsene nicht steuern können. Entscheidend ist, dass Eltern ein Umfeld schaffen, das reich an Anregungen ist und dass sie subtil auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen.

Wie kann eine Mutter die Anliegen und Äusserungen ihres kleinen Kindes erfassen, wenn sie unentwegt das Smartphone am Ohr hat oder hektisch Mitteilungen eintippt?
Da sprechen Sie ein ernsthaftes Problem an, bei dem es wiederum um Beziehungsqualität geht. Es ist ausserordentlich wichtig, dass sich die Bezugsperson auf das abstimmt, was das Kind signalisiert, und dass sie die kindlichen Signale aufnimmt. Eine angemessene Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson ist nicht möglich, wenn am Kopf der Mutter oder des Vaters ein Smartphone klebt.

Und was ist davon zu halten, dass schon vielen Kleinkindern elektronische Gadgets in die Hand gegeben werden?
Häufig haben diese Geräte eine Babysitter-Funktion. Die modernen Medien gehören nicht ins Spielrepertoire der ersten drei Lebensjahre eines Kindes: Es soll die gegenständliche und die räumliche Welt erfahren dürfen und die Fähigkeit entwickeln, Beziehungen einzugehen. Das sind alles Aufgaben, welche die neuen Medien nicht vermitteln können.

Welche Stresssituationen sind für das kleine Kind eine ernste Belastung?
Eine schwere körperliche Erkrankung, etwa eine Krebserkrankung, stellt selbstverständlich für das Kind eine schwerwiegende Belastung dar, die seine Entwicklung beeinträchtigen kann. Traumatisierung im Krieg oder Armut können sich ebenfalls als entwicklungshemmende Gefährdung auswirken. In unserem Land sind aber die psychischen Erkrankungen der Eltern die bedeutendsten Risikofaktoren für Störungen in der Entwicklung eines Kindes.

Sind Beziehungsprobleme der Eltern oder deren Trennung ebenfalls Ereignisse, die beim Kind Stress auslösen?
Ja, das kann sein, besonders dann, wenn die Trennung der Eltern konfliktreich verläuft. Spielt sich die elterliche Trennung jedoch in geordneten Bahnen ab und tragen die Eltern ihre Konflikte nicht auf dem Rücken des Kindes aus, sondern nehmen sie weiterhin gemeinsam dessen Bedürfnisse wahr, kann sich das Kind in der Situation zurechtfinden.

Ziemlich rasch nimmt das kleine Kind seine Selbstwirksamkeit wahr. Es wendet Verweigerungstaktiken an und nervt seine Eltern mit Zwängereien.
Da gilt es, die entwicklungspsychologischen Schritte zu beachten, die zu diesem Trotzverhalten führen. In seinen beiden ersten Lebensjahren hat das Kind noch keine Eigenwahrnehmung, es sieht sich noch nicht als eigene Person. Das Kind schreit, wenn es Hunger hat, wenn die Windel voll ist oder es sich unwohl fühlt: Noch ist es nicht fähig, seine Bedürfnisse differenziert zu äussern. Im Alter von zwei Jahren wird sozusagen ein Schalter angeklickt: Das Kind wird zunehmend autonom, lernt sprechen und sich ausdrücken, es kann selbstständig Dinge erreichen oder Einfluss nehmen. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat von der Phase des «Egozentrismus» gesprochen: Das kleine Kind ist im Alter von zwei bis vier Jahren ganz auf sich bezogen und kann sich noch nicht in eine andere Person und deren Empfindungswelt hineinversetzen. Erst nach einem weiteren Entwicklungsschritt zeigt sich die «Theory of Mind», die Fähigkeit, Absichten und Gedanken des Gegenübers zu verstehen.

Und dann werden die Trotzphasen allmählich weniger?
Ja, das Kind wird beispielsweise verstehen, dass ihm die Mutter die Schokolade an der Kasse im Einkaufscenter nicht kauft, weil in Kürze zu Hause das Mittagessen auf dem Tisch steht. Das Kind lernt, zu warten und eigene Bedürfnisse zurückzustellen.
Eltern sollten die wachsende Eigenständigkeit des Kindes durchaus zulassen und ihm zum Beispiel bei der gemeinsamen Planung eines freien Nachmittags unter verschiedenen Vorschlägen die Wahl lassen.
Manchmal müssen zum Schutz des Kindes auch Grenzen gesetzt werden. Es ist eine erzieherische Herausforderung, zu entscheiden, wann man Autonomie zulassen darf und wann das Kind Grenzen braucht, weil es aufgrund seines Entwicklungsstandes eine Situation noch nicht verstehen oder eine Aufgabe noch nicht bewältigen kann. Dies ist eine zentrale und gleichzeitig sehr anspruchsvolle Aufgabe des Elternseins.

  • Prof. Dr. med. Oskar Jenni ist Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.