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Grenzen: Höher, besser, schneller?

Evelyne Binsack bewältigte als erste Schweizerin den Mount Everest und schaffte es aus eigener Kraft an den Nord- und Südpol. Ihre wichtigste Quelle ist dabei Wissen, die eigene Intuition und das Leben im Jetzt.

Warum haben Sie sich Extremtouren ausgesetzt?
Evelyne Binsack*
: Ich weiss nicht, ob es ein Gen hat im Menschen, das einen extrem werden lässt. Ich wollte einfach sehr gut werden in dem, was ich mache und im Alpinismus hat es bei mir eine schnelle Entwicklung gegeben.

Wie entwickelte sich dieser Wunsch nach extrem anspruchsvollen Touren?
Ich war schon ein energetisch kraftvolles Kind. Meine Energie konnte ich zuerst in der Leichtathletik kanalisieren. Mit der Zeit wurde das aber zu eintönig, denn es war ein «im Kreise laufen». Mit 16 Jahren ging ich auf die erste Skitour. Ausdauer, die Belastung und sich voll und ganz einer Sache verschreiben, kannte ich aus der Leichtathletik. Nach dem Winter kam der Sommer und erstmals kletterte ich in den Bergen. So entwickelte sich das weiter.

Haben Sie auf den Extremtouren manchmal Angst verspürt?
Es gibt verschiedene Formen von Ängsten, nicht nur die eine Angst. Bei der Leichtathletik war es bei mir die Angst vor dem Start und dem Zieleinlauf. Im Bergsport, beispielsweise beim Klettern, lernte ich relativ schnell, mit den möglichen Stürzen und den damit verbundenen Ängsten umzugehen. Ich spürte aus Erfahrung, ob die Angst begründet ist oder nicht und lernte, Ruhe zu bewahren.

Trotzdem muss es schwierig sein, Ängste zu bezwingen? Was hilft dabei?
Das Wichtigste ist, dass ich mich in einer kritischen Situation sofort in eine Position bringe, die es mir erlaubt, innezuhalten. In einer senkrechten Felswand ist das zum Beispiel ein Griff, der gross genug ist, dass ich ihn auch eine halbe Stunde halten könnte. In dieser «sicheren Nische» kann ich mit bewusstem Atmen die Angst unter Kontrolle bringen. Dann versuche ich, eine Lösung für das Problem zu finden, klettere los, immer mit der Rückversicherung, dass ich mich wieder in meine sichere Nische zurückretten kann. Dann braucht es eine riesige Portion Mut, diesen «sicheren Hafen» zu verlassen. Wut ist übrigens eine sehr hilfreiche Emotion, vorausgesetzt, ich kann sie gezielt auf das Problem richten. Mit ihr kann ich zusätzlich die Energie erzeugen, die es für das Überwinden der Schwierigkeiten braucht.

Wie wichtig ist die eigene Intuition für Extremtouren?
Mit der Erfahrung entwickelt sich die Wahrnehmung. Intuition ist eine Mischung aus Erfahrung und Vorahnung. Es gibt bei Extremtouren kaum eine Risikopufferzone. Falsche Entscheidungen können unweigerlich zum Tod führen. Als junge Alpinistin habe ich mich unzählige Male beim Klettern verletzt, weil ich etwas versucht habe, obwohl ich spürte, dass es nicht geht. Das Gefühl habe ich am Anfang nicht ernst genommen. Heute zähle ich auf meiner Intuition, die mich auch durch meine Expeditionen geleitet hat. Man lernt, darauf zu vertrauen, dass man etwas sieht, das noch gar nicht da ist. Es geht darum, völlig bewusst zu sein und aus dieser Bewusstheit heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Haben Sie Mentaltechniken bei einem Coach gelernt?
Nein, ich bin mir mein eigener Coach. Für mich hängen Körper und Psyche eng zusammen. Bin ich körperlich stark und habe ich Kraft, dann ist auch die Angst geringer, die mentale Kraft grösser.

Wie haben Sie sich auf die Touren vorbereitet?
Mir ist es immer wichtig, dass mir niemand ins Konzept pfuscht. Wenn mir aber, wie beim Gang zum Süd- oder Nordpol, gewisse Fähigkeiten fehlen, dann lasse ich mich von Experten beraten und übe den Ernstfall. Das heisst, ich übe vorab auf einer Zehn-Tages-Tour und gewinne damit die Selbstsicherheit und das Know-how für die grosse Expedition. Bewegung ist zudem ein Teil meines Lebens, der dazugehört wie Essen und Schlafen. Also renne, laufe oder klettere ich täglich. Habe ich beispielsweise tagsüber viele Termine und muss gegen sechs Uhr abreisen, dann bin ich um vier Uhr auf dem Stepper, damit ich im Minimum eine Stunde Bewegung habe. Dann fühle ich mich wohl. Büroarbeit hingegen ist für mich Stress, dazu muss ich mich zwingen.

War die Wahl der Touren frei?
Meine Projekte waren bis zu achtzig Prozent immer selbstfinanziert, was mir die Freiheit gegeben hat, meine Ziele selbst zu wählen. Ist aber eine Idee einmal im Kopf und vor allem, wenn man sich über Jahre mit Zielen wie dem Mount Everest und dem Süd- und Nordpol auseinandersetzt, dann bekommt diese Idee ein Gewicht im Leben. Man arbeitet hart auf das Ziel hin und lässt sich durch fast nichts abbringen. Ein Ziel verfolgen, bedeutet immer auch, eine Opferbereitschaft zu haben. Als ich beispielsweise während 484 Tagen von zu Hause aus zum Südpol ging und dabei 25 000 Kilometer mehrheitlich mit eigener Muskelkraft zurücklegte, war das nicht nur körperlich eine extreme Leistung, die ich erbringen musste, sondern auch mental. Es gibt bei solchen Expeditionen Tage, da möchte man einfach alles hinschmeissen und dann gibt es Tage, an denen einen die Natur wunderschön beschenkt.

Welches war Ihr eindrücklichster Moment?
Als ich vom Mount Everest ins Basislager zurückkam, befanden sich zwei Bergsteiger noch im Aufstieg. Beide litten an der Höhenkrankheit und es war klar, dass sie den Abstieg aufgrund der Zeit – es war bereits Nachmittag – nicht mehr schaffen und mit grosser Wahrscheinlichkeit sterben werden. Wir haben damals trotzdem eine zwanzigköpfige Rettungsaktion gestartet und die beiden innerhalb von drei Tagen in schwierigsten Bedingungen heil vom Berg geholt. Diese zwei Menschen lebendig zu sehen, war überwältigend.

Was lehren Sie die Expeditionen?
Sich etwas Grandioses in den Kopf zu setzen und es mit Willen und Durchhaltevermögen auch zu schaffen! Auf den Touren habe ich eine ganz tiefe Verbindung zur Erde; es entwickelte sich ein unglaublicher sechster Sinn oder ein Urinstinkt, der den Blick auf Gefahren schärft. Man wird auf der einen Seite wilder, kommt sich aber dadurch selber näher. Ich wusste instinktiv, ob mir Menschen, Tiere oder Situationen gefährlich werden können. Während des lang andauernden Unterwegsseins in diesen Urinstinkt hineinzuwachsen bedeutet, eine Dimension des Menschseins zu leben, die im Alltag des zivilisierten Menschen zunichte geht. Diese Dimension zu erfahren, ist einer der Antriebe meiner Expeditionen.

Haben Sie weitere Ziele?
Zurzeit halte ich Vorträge. In diesen geht es mir aber nicht um «höher – schneller – besser», sondern um das Entwickeln der eigenen mentalen Stärken für die eigene Zielverwirklichung, die Selbstverantwortung und die Verantwortung anderen und unserer Umwelt gegenüber.

Die Grenzen des menschlichen Körpers

  • Körpertemperatur: Die maximale Körpertemperatur liegt bei 42,3 °C.
  • Höhe: Bei akklimatisierten Menschen liegt die Todeszone bei rund 7000 Metern. (> 48 Stunden in 8000 Metern Höhe: Ein Überleben wird extrem unwahrscheinlich.)
  • Wassertiefe: Der Rekord im Apnoetauchen liegt bei 214 Metern Tiefe.
  • Blutverlust: Ein Blutverlust von mehr als einem Liter kann tödlich sein. 
  • Ohne Wasser: Ein gesunder junger Mensch circa drei bis vier Tage, im Extremfall sogar bis zu zwölf.
  • Ohne Nahrung: Je nach körperlicher Konstitution ein bis zwei Monate.
  • Ohne Schlaf: Der Weltrekord im Wachbleiben liegt bei 266 Stunden.

* Evelyne Binsack (51) ist diplomierte Bergführerin und bestieg 2001 als erste Schweizerin den Mount Everest (8848 m). Expeditionen zum Nord- und Südpol waren ihre grössten Extremabenteuer.