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Im Kontinent der Träume

Allein schon der Wunsch «Träum süss!» gibt einen Hinweis, dass Träume nicht nur Schäume sind. Prof. Dr. Michael Schredl beschäftigt sich mit Traumforschung und weiss um die Bedeutung unserer Träume.

Herr Professor Schredl, was entgegnen Sie einem Menschen, der Ihnen sagt, er träume nie?
Prof. Dr. Michael Schredl*: Unser Gehirn als biologisches Organ ist während des Schlafs aktiv und hat spezifische Aufgaben zu erfüllen: Tagesereignisse werden im Schlaf nochmals überarbeitet und abgespeichert. Was den Traum angeht: Er ist ein psychisches und subjektives Erleben, das ein Mensch während des Schlafs hat. Wir gehen davon aus, dass sowohl beim Einschlafen als auch während aller Schlafphasen bei allen Gehirntätigkeiten immer subjektives Erleben vorhanden ist. Davon kann man allerdings nur dann berichten, wenn man sich nach dem Aufwachen an den Traum erinnert.

Weshalb wird ein Traum leicht vergessen?
Weil das Gehirn während des Schlafes spezielle Aufgaben hat, muss es während des Aufwachens gleichsam einen anderen Gang ins Getriebe einlegen und auf den Tagmodus umschalten. Während dieser Aufwachphase gehen Träume, die während des Schlafs aufgetreten sind, relativ leicht verloren. Man kann allerdingsdie Traumerinnerung trainieren. 

Was bedeutet, dass man das Traumgeschehen schriftlich festhält, zumindest in Stichworten?
Die schriftliche Fixierung ist auch ein Übungsschritt. Dieser wird aber erst wirksam, wenn man die Traumerinnerung bereits trainiert hat. Grundlage des Trainings ist die Aufmerksamkeitslenkung. Das heisst, dass man abends vor dem Zubettgehen ein Notizbuch oder einen Zettel und Schreibzeug bereitlegt. Manche sagen, es sei hilfreich, wenn man gleich das Datum des nächsten Tages aufschreibt. Das Gehirn registriert: «Aha, man ist an den Träumen interessiert.» Beim Einschlafen sollte man sich nochmals vergegenwärtigen, dass man lernen möchte, sich Träume zu merken. Beim Aufwachen ist es sehr wichtig, dieAufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, was sich im Traum ereignet hat. Selbst wenn nur ein kleiner Traumausschnitt in Erinnerung geblieben ist, muss man ihn im Gedächtnis wiederholen. Diese Repetition verfestigt sich im Gedächtnis – und danach folgt die schriftliche Aufzeichnung.

Dieses Aufmerksamkeitstraining erstreckt sich vermutlich über längere Zeit?
Nicht unbedingt, wie ich aus eigener Erfahrung weiss. Vor langen Jahren hatte ich mir ein Traumbuch gekauft, das Datum aufgeschrieben – und am nächsten Morgen war der Traum präsent. Und dies, nachdem ich zuvor zehn Jahre überhaupt keine Traumerinnerung hatte. Die Aufmerksamkeitslenkung kann also sehr rasch wirksam werden.

Ist eine Methode bekannt, mit der man häufig wiederkehrende Angstträume wie etwa Versagensangst oder Angst vor materiellem Verlust wegtrainieren kann?
Statt von «wegtrainieren» würde ich von «bewältigen» sprechen. Das ist möglich, es gibt sehr wirksame Ansätze. Eine Idee ist, dass sich derartige Träume gerade deshalb stabilisieren, weil man sie nicht haben will. Je weniger man Angst haben will, desto mehr wächst sie an – weil man Angst vor der Angst entwickelt hat. Der Entschluss, «Diesen Albtraum will ich möglichst rasch vergessen!», ist keine gute Bewältigungsstrategie.

Was genau ist ein Albtraum?
Albträume sind mit stark negativen Gefühlen belastete Träume, die meistens zum Erwachen führen. Bei einem Falltraum, bei dem man ins Bodenlose fällt, wacht man auf, bevor man unten aufschlägt. Die Albtraumthemen können ganz verschieden sein. Ausser Fallträumen können Prüfungsängste, Angst vor Verfolgung oder vor dem Tod von nahen Angehörigen auftreten. Für die Palette der Albträume kennzeichnend ist in jedem Fall diese Struktur: Es geht um starke Emotionen und die träumende Person weiss nicht, was sie machen soll.

Wie geht man gegen einen Angsttraum vor?
In der Albtraumtherapie wird das Grundmuster geübt: «Ich kann diese Situation in der Vorstellung bewältigen.» Man stellt sich die Traumsituation nochmals vor und überlegt, wie man dagegen vorgehen und sie ändern kann. Wird man beispielsweise im Traum immer wieder verfolgt, überlegt man sich im Wachzustand, wie man sich gegen den Verfolger wehren könnte. Das bisher praktizierte Weglaufen hilft nicht. Also stellt man sich vor, man habe starke Begleitpersonen neben sich und wage es, sich umzudrehen und der Gefahr ins Gesicht zu schauen: Man erstarrt nicht vor Angst, sondern wird aktiv. Die belastenden Träume werden im Wachzustand einer Lösung zugeführt. Wird dieser Ablauf mehrmals geübt, verschwindet der Angsttraum.

Nehmen wir an, eine Frau träumt, ihr falle ein Zahn aus. Am nächsten Morgen beisst sie sich beim Frühstück tatsächlich einen Zahn aus. Eine volkstümliche Deutung sagt, der Traum weise auf mangelnde oder auch ungenutzte Lebensenergie hin.
Vor Kurzem hatte ich einen Vortrag bei einer Zahnarztgesellschaft, bei dem ich das Beispiel vom Zahnausfall erwähnte. Im Wachzustand würde man kaum in Panik verfallen, sondern sich beim Zahnarzt zur Behandlung anmelden – im Traum dagegen fühlt man sich der Hilflosigkeit ausgeliefert. Dieser Traum vom Zahnverlust kommt tatsächlich häufig vor, hat jedoch für jeden Menschen eine andere Bedeutung.

Hilflosigkeit ist ein Grundmotiv eines jeden Angsttraums?
Ja, im Traum findet man vielleicht sein Auto nicht mehr oder man sucht verzweifelt seine Brieftasche mit allen Ausweisen. Das Gefühl der Hilflosigkeit wird verstärkt dargestellt, während man in der Realität zielgerichtet nach Lösungen suchen würde.Positivgesehen, bieten unangenehme Träume die Gelegenheit, Lösungsstrategien einzuüben.

Können Sie dem Satz «Wer seine Träume versteht, lebt glücklicher» zustimmen?
Von Träumen kann man extrem viel lernen und besser mit dem Leben zurechtkommen. Man entwickelt seine Kreativität und kann sein Leben besser gestalten.

* Prof. Dr. Michael Schredl ist bei der Schlafambulanz am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim/Deutschland tätig.