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Mitgefühl: Luxus oder Notwendigkeit?

Die Frage, ob und in welchem Rahmen Mitgefühl in unserer Gesellschaft von Bedeutung ist, beschäftigt auch den Theologen und Philosophen Dr. Stephan Feldhaus.

Dr. Stephan Feldhaus, gehört Mitgefühl zur neuronalen, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten Grundausstattung des Menschen?
Dr. Stephan Feldhaus*:
Ja, davon bin ich überzeugt. Neurologen haben nachgewiesen, dass uns die sogenannten Spiegelneuronen im Gehirn zu empathischen Wesen machen. Diese spezifischen Nervenzellen zeigen das gleiche Aktivitätsmuster, wenn wir eine Handlung lediglich betrachten oder sie tatsächlich ausführen. Werden wir Zeuge einer körperlich oder psychisch schmerzhaften Aktion gegenüber einem Mitmenschen, empfinden wir ebenfalls Schmerz. Abgesehen von der wissenschaftlichen Begründung: Auch von der Beobachtungsebene aus kann man feststellen, dass die Menschen grundsätzlich der Empathie fähig sind. Wie sie diese ausprägen und nutzen, hängt von vielen Bedingungen ab – etwa davon, was einem schon im frühen Kindesalter gelehrt worden ist oder welche Vorbilder einem wichtig sind.

Was verstehen Sie unter dem vielschichtigen Begriff Mitgefühl?
Im klassischen Sinn würde die Antwort lauten: Die Anteilnahme am Leid oder der Not anderer Menschen. Ich sehe den Begriff etwas breiter und spreche auch eher von Empathiefähigkeit. Darunter verstehe ich die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Gefühle und die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen. Diese Ebene ist eine unverzichtbare Grundlage für gutes menschliches Zusammenleben.

Ist Einfühlungsvermögen nicht erst dann echt wirksam, wenn man selbst gleiche oder ähnlich leidvolle Erfahrungen gemacht hat?
In Leid oder auch in Glück kann man sich tatsächlich besser einfühlen, wenn man ähnliche Erfahrungen selbst schon gemacht hat. Deshalb ist die beliebte Reaktion «O ja, das kann ich gut verstehen, da fühle ich mit» oft kein Trost, sondern eine blosse Redensart – weil eben die persönliche Erfahrung fehlt.

In den sogenannt sozialen Medien werden Menschen beschimpft, verhöhnt oder gar bedroht. Geht diese Verrohung mit einem allgemeinen Schwund an Mitgefühl und Respekt einher?
Grundsätzlich ist jeder Mensch zur Empathie fähig. Aber diese Eigenschaft will praktiziert, erprobt und unter Beweis gestellt werden. Und da bin ich der Ansicht, dass einerseits ein Mangel an Vorbildern und Werthaltungen den Anteil an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl verringert hat. Andererseits wirken die
vielseitigen Möglichkeiten der Ablenkung und der Individualisierung in einem Umfeld der Anonymisierung mit. Der Respekt, den Sie ebenfalls ansprechen, ist
ja eine direkte Folge der Fähigkeit, sich in die Situation eines Mitmenschen einzufühlen. Respekt beginnt nach meinem Dafürhalten schon bei ganz kleinen Dingen.

An welche kleinen Dinge denken Sie?
Es geht um Kleinigkeiten wie etwa die, dass man jemandem im Bus einen Sitzplatz anbietet, für jemanden die Türe festhält, sich bedankt, wenn man etwas bekommen hat – kleine Dinge, die heute gerne belächelt werden. Aber ich halte es für eine gesellschaftliche Katastrophe, dass das Verschwinden solcher kleinen Zeichen des Mitgefühls stillschweigend akzeptiert wird. Neulich habe ich auf dem Markt in Basel erlebt, wie ein Verkäufer ein kleines Kind sehr freundlich fragte, ob es lieber eine Tomate oder eine Karotte geschenkt bekommen wolle. Er bekam zunächst keine Antwort, aber dann griff der Junge nach der Karotte und biss hinein. Ohne sich zu bedanken. Der Vater an seiner Seite ermahnte ihn nicht, danke zu sagen. Der Verkäufer sagte nichts – und ich? Ich sagte auch nichts. Wie soll dieses kleine Kind denn lernen, wie wichtig es ist, sich zu bedanken? Einige Leute werden nun sagen: «Na hör mal, das hat man früher einmal so gemacht, das war aber einfach nur Dressur!» Nein, für mich geht es hier um den Beginn von Empathie und Respekt. Nimmt man das Gefühl des Mitmenschen nicht mehr ernst, kann man es auch missachten und Schaden zufügen.

Das vielzitierte Bibelwort «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst»: Will es uns vor überbordendem, vielleicht sogar selbstzerstörerischem Mitgefühl warnen?
Ich denke nicht, dass dieses Jesus-Wort den Auswüchsen der Nächstenliebe entgegenwirken will. Es meint vielmehr, man solle die Eigenliebe genauso im Fokus haben wie die Nächstenliebe. Zwischen dem «Was tut mir gut – was tut dem anderen gut?» sollte immer eine Balance bestehen. Die Schriftstellerin Gertrud von Le Fort hat einmal gesagt: «Was kann der anderen Gutes tun, der sich selbst nichts Gutes tun kann?» Wer empathiefähig ist, hat nicht nur ein Gefühl für andere, sondern auch für sich selbst.

Wie ist es möglich, dass ein Mensch beispielsweise ein liebevoller und einfühlsamer Ehemann und Vater und gleichzeitig ein gnadenlos harter Geschäftsmann sein kann?
Menschen können zwar die Fähigkeit zur Empathie entwickeln, aber bestimmte Bereiche oder Personen davon ausschliessen. Das Gewissen des Menschen lässt sich eben leider auch verformen. Das gute Grundgefühl kann überdeckt oder sogar so weit indoktriniert werden, sodass beispielsweise eine bestimmte Menschengruppe abgelehnt oder gar verfolgt wird.

Ist es zuweilen so, dass wir uns voll Mitgefühl einer grossen Idee oder Bewegung zugetan fühlen und vielleicht sogar dafür demonstrieren, die kleine Alltäglichkeit mit ihrer Forderung nach Mitgefühl jedoch beiseiteschieben?
Ich meine, beides sei nötig, die grossen Ideen und die kleinen Alltäglichkeiten. Wir brauchen Vorbilder, die das Thema Empathie, Mitgefühl und Achtsamkeit aufrichtig vorleben und im grossen Kreis anschaulich machen. Andererseits ist jeder Einzelne gefragt – und zwar ganz praktisch und in seinem Alltag: Entscheidend ist die Alltagstauglichkeit des Mitgefühls. Die kann darin bestehen, dass man jemandem behilflich ist oder jemandem selbst dann einen freundlichen Gesichtsausdruck schenkt, wenn er einem auf der Strasse gerade die Vorfahrt genommen hat.

Weihnacht ist die Zeit des Schenkens und Beschenktwerdens. Auch die Spendenfreudigkeit nimmt deutlich zu. Handelt es sich eher um saisonale Rituale oder um schöne Manifestationen des Mitgefühls?
Mitgefühl kann mitspielen, gerade wenn es um Spendenaktivitäten geht.

Was die Geschenke anbelangt: Weshalb macht man Geschenke?
Letztlich will man mit einem Geschenk auch etwas erreichen. Positiv könnte man sagen, dass man Zuneigung zur Geltung bringen oder eine Freude machen möchte. Selbstverständlich können sich hinter einem Geschenk auch viele mögliche Spielarten von Berechnung verstecken. Aber freies, ehrliches Schenken – das ist doch einfach schön! Und da sind wir dann doch wieder bei der Empathie: Soll das Geschenk beim Beschenkten auch wirklich ankommen, muss man sich in ihn hineinfühlen, muss Gespür und Gefühl aktivieren. Sonst läuft man Gefahr, dass es bei der guten Absicht bleibt. Und bekanntlich ist das Gegenteil von wirklich gut die gute Absicht.

* Dr. Stephan Feldhaus ist Theologe und Philosoph. Er leitete während zehn Jahren und bis vor Kurzem die Abteilung Kommunikation bei Hoffmann-La Roche in Basel und war Mitglied der Konzernleitung.