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Mobilität im Alter

Der Verlust an Bewegungsfähigkeit kann die Lebensqualität eines älteren Menschen in mehr oder minder hohem Masse beeinträchtigen. Mobilität im Alter ist für Dr. med. Stephanie Bridenbaugh ein wichtiges Thema.

Frau Dr. Bridenbaugh, sind Beeinträchtigungen der motorischen Leistungsfähigkeit zwangsläufige Alterserscheinungen?
Dr. med. Stephanie Bridenbaugh*: So überraschend es klingen mag: Schon mit Beginn des dreissigsten Lebensjahres nimmt die Knochendichte ab und der Organismus beginnt, Muskelgewebe in Fettgewebe umzuwandeln. Der Mensch verliert sodann pro Jahr laufend und ohne, dass er dies wahrnehmen würde, etwa ein Prozent seiner Muskelmasse. Im Alter von achtzig Jahren verfügt er nur noch über die Hälfte der Muskelmasse, die ihm vor fünf Jahrzehnten zur Verfügung gestanden hatte. Und plötzlich werden bislang ganz normale Bewegungsabläufe beschwerlich.

Kann lebenslanges, konsequentes sportliches Training diesen Abbauprozess verlangsamen?
Verlangsamung ist möglich und kann selbst dann wirksam werden, wenn sich ein bekennender Couch-Potato im Alter von siebzig oder mehr Jahren entschliesst, seine Trägheit zu überwinden und sich regelmässig zu bewegen. Es ist nie zu spät, um mit einem Bewegungsprogramm zu beginnen.

Das klingt ermutigend. Aber was raten Sie einem älteren Menschen, der vielleicht Herz- oder Atembeschwerden hat oder dessen Gesamtzustand schlecht ist?
Selbstverständlich wird eine ärztliche Abklärung ermitteln, welche Art von Training wann und in welcher Intensität infrage kommt. Empfehlenswert ist auch eine physiotherapeutische Begleitung – aber im Grundsatz würde ich sagen: Wer gesundheitliche Probleme hat, sollte erst recht aktiv werden! Ein Krafttraining beispielsweise stärkt die Beinmuskulatur, sodass man besser Treppen hochsteigen oder vom Stuhl aufstehen kann. Aber auch die Atemmuskulatur profitiert von Fitnessübungen, weil man besser Luft holen kann. Wird der Herzmuskel trainiert, verbessert sich die Pumpfunktion des Organs. Es gibt viele sportmedizinische Angebote, so etwa für Multiple-Sklerose-Patienten. Für sie – und ganz allgemein – sind unter anderem auch die mit dem Training verbundenen sozialen Kontakte eine hilfreiche Begleiterscheinung.

Sportliche Aktivität kann somit mehrere positive Auswirkungen haben?
Mit Sicherheit. Überspitzt gesagt: Es kommt nicht so sehr darauf an, was Sie unternehmen, sondern dass Sie etwas unternehmen. Bei der Wahl einer sportlichen Aktivität sollten weder das Pflichtbewusstsein noch der Gedanke der Gesundheitsprävention im Vordergrund stehen: Wählen Sie das, was Ihnen wirklich Spass macht. So besteht am ehesten die Gewähr, dass Sie dranbleiben und regelmässig aktiv sind.

Manchmal wird die Lust auf körperliche Aktivität gebremst, weil man alles andere als rank und schlank ist und im Sportdress ausgesprochen unvorteilhaft aussieht.
Ich meine, dieses Problem sei nicht altersbedingt – es ist international und ganz einfach menschlich. Bedauerlich, dass so viele Leute durchaus wissen, dass sportliche Aktivität für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden wichtig wäre. Aber aus Bequemlichkeit oder falscher Scham wartet man so lange, bis etwas Unangenehmes passiert. So lange, bis etwa nach einem Sturz ein Bewegungsprogramm verordnet werden muss. Leider gibt es noch kein Rezept, mit dem bei allen Menschen Motivation in Gang gebracht werden könnte.

Was halten Sie von jenen Senioren oder Seniorinnen, die mit einem Schrittzähler unterwegs sind und nicht ruhen noch rasten, bis sie ihr Tagesprogramm von mindestens 7000 Schritten absolviert haben?
Gehen ist grundsätzlich und ganz allgemein ein empfehlenswertes und ausgezeichnetes Training, sowohl für die Kraft als auch für das Gleichgewicht und die Ausdauer. Überdies wirkt es sich positiv auf die Stimmung aus, vor allem wenn man sich im Freien bewegt. Wer sich täglich ein wie von Ihnen erwähntes Bewegungsziel setzt, wird gewiss von dieser Selbstmotivation einen Nutzen ziehen. Allerdings sollte man sich nicht allein auf die Schrittzahl fixieren.

Weshalb nicht?
Weil es doch sehr darauf ankommt, ob ich 1000 Schritte bergauf, bergab oder auf einer Ebene zurückgelegt habe. Was den Schrittzähler anbelangt: Wenn so etwas Spass macht und vielleicht zu einem freundschaftlichen Wettbewerb führt – warum nicht? Kraft und Flexibilität werden aber auch dann trainiert, wenn ich beispielsweise im Sommer drei Stunden lang im Garten gejätet habe. Wichtig ist in jedem Fall die Regelmässigkeit der körperlichen Aktivität. Also lieber jeden Tag fünfzehn oder dreissig Minuten in Bewegung investieren, als sich am Sonntag zu einem Marsch von fünf Stunden zwingen. 

Sie kommen mehrfach auf das Prinzip Regelmässigkeit zu sprechen.
Ja, und damit stehe ich nicht allein. Wie viele internationale Fachgruppen sagt auch das Schweizerische Bundesamt für Sport, ein empfehlenswertes Ziel wären 150 Minuten sportliche Betätigung pro Woche und somit eine tägliche Einheit von dreissig Minuten während fünf Wochentagen. Die dreissig Minuten zählen auch dann, wenn die Bewegung nicht durchgehend, also mit Unterbrechung, durchgeführt worden ist. Ob Radfahren oder Wandern: Man sollte sich immer so bewegen, dass man nicht völlig ausser Atem gerät, sondern sich immer noch mit jemandem unterhalten kann. Man sollte immer Vernunft walten lassen: Wer im dritten Stock wohnt und sich in den Kopf gesetzt hat, den Lift links liegen zu lassen, muss nicht gleich alle drei Stockwerke hochrennen. Man kann sich durchaus vornehmen, regelmässig ein Stockwerk zu bewältigen und erst dann in den Lift zu steigen. 

Offenbar bietet der Alltag mehr Trainingsmöglichkeiten als man vermutet?
Ja, warum nicht bei freundlichem Wetter, statt an der Tramhaltestelle zu warten, zu Fuss zur nächsten Haltestelle gehen? Oder eine andere kleine Übung: Falls Sie Rechtshänderin sind, sollten Sie immer mal wieder beim Zähneputzen die linke Hand einsetzen. So trainieren Sie gleichzeitig Geschicklichkeit und Gleichgewicht. Und wenn Sie standfest sind, versuchen Sie das linkshändige Zähneputzen im Einbeinstand. Oder bleiben Sie beim Telefonieren nicht sitzen, sondern gehen Sie auf und ab. Tatsächlich muss man die sich bietenden Möglichkeiten nur wahrnehmen und sie regelmässig nutzen. Was ich ebenfalls immer wieder betone: Man soll die Aktivität wählen, die zum persönlichen Lebensstil und zur eigenen Wesensart passt. Ebenfalls wichtig ist die individuelle Zielsetzung, bei der ich kläre, wozu ich in der Lage sein will.

Kommen als günstige Bewegungsarten etwa auch das Tanzen, Yoga oder Qigong infrage?
Selbstverständlich sind auch Bewegungsarten empfehlenswert, die mit Rhythmik zu tun haben. Zahlreiche Studien belegen, wie sich die verschiedenen körperlichen Aktivitäten mehrfach positiv auf das Gesamtbefinden auswirken. Leitplanken und Anregungen sind wichtig und richtig – im Einzelfall jedoch stellen sich immer Fragen wie «Was sind meine Verpflichtungen und wie gestaltet sich mein Tagesablauf? Wie lauten meine Zielsetzungen und wie kann ich ein Trainingsprogramm gestalten? Was passt zu mir und meinen Bedürfnissen?» Eine ehrliche Selbstbefragung entscheidet, ob man mit Freude und regelmässig trainiert – sei man nun neunzehn oder neunzig Jahre alt.

* Dr. med. Stephanie Bridenbaugh ist Leiterin des Basel Mobility Centers an der Universitären Altersmedizin FELIX PLATTER Basel. In Zusammenarbeit mit der Universität Zürich ist sie an der STRONG-Studie beteiligt, bei der es um die Auswirkungen eines Trainingsprogramms auf den altersbedingten Muskelschwund geht.