Deutsch

Patientengespräche: Betreuung mit allen Sinnen

Das Zusammenspiel aller unserer Sinne ist auch im Kontakt zwischen Arzt und Patient von erheblicher Bedeutung. Dr. med. Sabina Hunziker beschäftigt sich als Professorin an der Universität Basel mit Medizinischer Kommunikation.

Frau Professorin Hunziker, erlebt ein Mensch so etwas wie eine Sinnestäuschung, wenn er die positive Wirkung eines Medikaments zu spüren glaubt, obwohl dieses überhaupt keinen Wirkstoff enthält – oder verfügt er über mehr als fünf Sinne?
Prof. Dr. med. Sabina Hunziker*:
In diesem Fall spricht man von Placeboeffekt, von einem Bereich, der sehr gut untersucht ist und bei dem die Psyche eine grosse Rolle spielt. Die Erwartung, dass das Medikament wirken wird, hat in vielen Fällen tatsächlich positive Auswirkungen. Ob Placebo oder reguläres Medikament: Die Vorstellung und ebenso der starke Wunsch, dass es Heilung bringen wird, können durchaus zur Wirksamkeit beitragen.

Geht es um eine Sinneswahrnehmung, die irgendwo im Verborgenen aktiv werden kann?
Zunächst geht es um einen Prozess, in den verschiedene Sinneswahrnehmungen hineinspielen. Stellen Sie sich vor, Sie lägen in einer Blumenwiese, die vielen Blüten verströmen ihren Duft: Es kann durchaus sein, dass Sie Düfte wahrnehmen, obwohl die Wiese nur in Ihrer Fantasie existiert. Verschiedene Sinne wie etwa Riechen, Tasten oder Fühlen können Wirkungen erzielen, die einem Placeboeffekt ähneln.

Ist die Behauptung haltbar, die sagt, die Wirksamkeit eines Medikaments hänge nicht zuletzt auch von den Worten oder der Gestik ab, mit der es vom Arzt oder Apotheker ausgehändigt worden sei?
Die Behauptung ist tatsächlich haltbar, derartige Vorgänge sind ebenfalls untersucht worden. Bei einer dieser Studien wurde zudem in Betracht gezogen, dass der Arzt oder Apotheker unter Umständen seine Präferenzen haben kann: Vom einen Medikament hält er vielleicht mehr, von einem anderen weniger – und genau diese Differenzierung kann vom Patienten oder Kunden selbst dann wahrgenommen werden, wenn keine Bewertung ausgesprochen und kein Kommentar abgegeben worden ist.

Welche über die bekannten fünf Sinne hinausgreifende Sinneswahrnehmung kommt denn hier zur Geltung?
Schwer zu sagen. Fest steht, dass in diesem Fall kein bewusster Vorgang nachweisbar ist. Es werden jeweils verbale und nonverbale, nicht messbare Signale ausgesendet und empfangen. Nimmt die Fachperson, zu der Sie Vertrauen haben, eine positive Haltung ein, sind die Wirkungschancen des ausgehändigten Medikaments eindeutig erhöht. Das Gleiche spielt sich in umgekehrter Richtung ab, wenn der Patient beispielsweise spürt, dass der Arzt von einer verordneten Therapie selbst nicht völlig überzeugt ist: Dies kann Patienten in der Wahrnehmung der Wirksamkeit unbewusst beeinflussen.

Ein Arzt und alle im therapeutischen Bereich Tätigen sind auch nur Menschen, die nicht in jeder Situation die zielgenau richtigen Worte oder Gesten finden.
Gewiss, der Arzt ist möglicherweise müde oder in Gedanken noch bei einem anderen Fall. Er kommt ins Behandlungszimmer, ihm gegenüber sitzt der Patient, der sich vielleicht vor einer Diagnose fürchtet. Das ernste Gesicht des Arztes macht ihn unsicher oder löst ein Erschrecken aus. Derartige subtile Wechselwirkungen müssen sich alle im Gesundheitsbereich arbeitenden Fachleute immer wieder bewusst machen.

Bewegen Sie sich als Dozentin für Medizinische Kommunikation genau in diesem Forschungsumfeld?
Der Forschungsbereich umfasst die Arzt-Patienten-Kommunikation, aber auch die Kommunikation im Behandlungsteam. Die entsprechende Professur wurde vor anderthalb Jahren errichtet. An unserer Universität wird den Medizinstudenten vom ersten bis sechsten Jahr gelehrt, wie man mit Patienten spricht. Im Verlauf der letzten Jahre hat es sich gezeigt, dass dieser Bereich enorm wichtig ist. Meinen Studenten pflege ich immer zu sagen: Eine gute Ärztin oder ein guter Arzt muss als absolute Grundvoraussetzung über gutes medizinisches Wissen, aber gleichzeitig über kommunikative Kompetenz verfügen. Fehlt diese zweite Befähigung, ist der Arzt nicht in der Lage, sein Wissen und die entsprechenden Informationen optimal zu vermitteln. Fachwissen und Kommunikationswissen: Beide Ebenen müssen gewährleistet sein. Fehlt der eine oder andere Teil, kommt es zu Missverständnissen oder es leidet die Betreuung. Wir wollen hier aber nicht vergessen, dass Kommunikation auch im privaten Leben, in verschiedensten Beziehungen und auf unterschiedlichen Ebenen ein wichtiges Thema ist.

Bleibt das einfühlsame Beratungsgespräch nicht auf der Strecke, wenn Ärzte und vor allem Spitalärzte unter dem Zeitdruck der Wirtschaftlichkeit stehen?
Sie sprechen ein Problem an, das unter dem aktuellen Zeit- und Kostendruck zunehmend schwer zu lösen ist. Die Dringlichkeit wird sogar zunehmen, denn seit der im laufenden Jahr in Kraft getretenen Tarmed-Revision müssen die Beratungsgespräche noch knapper gefasst werden. Vorläufig liegen noch keine entsprechenden klinischen Daten als Beleg vor, aber ich bedauere diese Entwicklung sehr. Doch selbst unter diesen ungünstigen und verschärften Umständen muss es möglich sein, im Gespräch auf den Patienten einzugehen und seine Anliegen und Sorgen zu verstehen. Dem Einwand, dass man beispielsweise als Notfallarzt überhaupt keine Zeit habe für ein Gespräch, setze ich entgegen, dass es selbst während einer kurzen Frist möglich sein kann, ein gutes Gespräch zu führen. Mit bestimmten Techniken lässt sich diese Fähigkeit entwickeln und trainieren.

In den letzten Jahren hat das Interesse an Esoterik, an übersinnlichen Phänomenen und ungewöhnlichen Heilmethoden zugenommen. Kann es sein, dass diese Tendenzen unter anderem damit zu tun haben, dass in der modernen Apparatemedizin mit ihren fantastischen Diagnosetechniken die mitmenschliche Zuwendung abhandengekommen ist?
Aus ärztlicher Sicht kann ich mir kein Urteil bilden, da müsste man mit Patienten ins Gespräch kommen. Es ist nicht auszuschliessen, dass die vermehrte Hinwendung zu Bereichen des sogenannt Übersinnlichen auch mit der weltweit um sich greifenden Unsicherheit zu tun hat. Vielleicht haben die weitreichende Unübersichtlichkeit und das Bedürfnis nach mehr Halt und Sicherheit auch zur Folge, dass sich bestimmte Gruppierungen wieder vermehrt religiösen Bewegungen zuwenden.

Verfügen Ärzte, die sich als ausgesprochen begabte Diagnostiker erweisen, über besonders fein ausgeprägte Sinneswahrnehmungen?
Sicher ist, dass es Ärzte gibt, die in dieser Hinsicht über eine besondere Begabung verfügen. Aber bis zu einem gewissen Grad kann die Wahrnehmungsfähigkeit auch erlernt und eingeübt werden – wir sprechen zum Beispiel vom Explorieren des Patientenkonzeptes. Es stellen sich folgende Fragen: Verbergen sich hinter den Beschwerden, von denen der Patient berichtet, vielleicht Umstände oder Befindlichkeiten, die aus der Sicht des Patienten das Grundleiden mitverursacht haben? Wollte oder konnte der Patient über bestimmte Hintergründe nicht sprechen?

Da steht der Arzt vor einer sehr anspruchsvollen Aufgabe.
Ja, man braucht viel Feingefühl, um in solch einer Situation zu einem Ergebnis zu kommen, das für den Patienten hilfreich ist. Man kennt jedoch Lernschritte und Lehrmethoden, die den Zugang erleichtern – dazu gehört beispielsweise die Schulung der Beobachtungsgabe. Nehmen wir an, der Arzt muss eine schlechte Nachricht überbringen, die den Patienten trifft und erschüttert. Was geschieht nun? Der Patient entfernt sich aus dem Blickkontakt, er schaut weg, wendet sich ab, verkleinert gleichsam den Raum um sich herum. In diesem Moment ist es ein Zeichen von Respekt, wenn der Arzt wartet, bis sich dieser Mensch wieder einigermassen gefasst hat. Erst wenn der Patient wieder bei sich ist, können weitere Informationen vermittelt und vom Patienten auch aufgenommen werden. Unsere Sinne mit allen ihren Ausdrucksmöglichkeiten stehen immer in enger Verbindung mit dem Grad unserer Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Wir alle sind mit Sinneswahrnehmungen ausgestattet, aber wir schenken ihnen zum Teil zu wenig Beachtung oder lenken unsere Aufmerksamkeit zu wenig sensibel darauf, was sie uns vermitteln oder sagen wollen.

*Prof. Sabina Hunziker, MPH, ist Stv. Chefärztin Psychosomatik und Leitende Ärztin Medizinische Kommunikation in Basel.