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Singen regt die Gesundheit an

Der Klang der eigenen Stimme hat heilende Kraft. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich intensiv der Sozialwissenschaftler Dr. Karl Adamek, ein Pionier der Singforschung. Für seine Projekte zur Förderung der Alltagskultur des Singens ist er vor drei Jahren mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.

Das Kind, das im dunklen Wald laut singt: Glaubt es, mit Klängen das Böse fernhalten zu können oder macht es sich mit der eigenen Stimme Mut?
Dr. Karl Adamek*:
Das Kind spürt, dass es beim Singen die Angst verliert und sich mutiger fühlt. Erwachsene berichten zuweilen von derartigen Kindheitserinnerungen. Diese und andere wunderbare Wirkungen des einfachen Singens sind ganz unabhängig vom Alter.

Sie sprechen von wunderbaren Wirkungen. Geht es um eine Form von Wunderglauben?
Von Wunderglauben kann keine Rede sein. Wir modernen Menschen haben viele technische und wissenschaftliche Erfolge erreicht und die Entwicklung geht in rasantem Tempo weiter. Zugleich haben wir aber viele unserer wunderbaren natürlichen Potenziale brach liegen lassen – so eben auch das einfache Singen. Im Chinesischen gibt es ein einzelnes Schriftzeichen, das zugleich Krise und Chance bedeutet. In diesem Sinne gibt es gerade in der aktuell krisenhaften Entwicklung unserer Gesellschaft glücklicherweise auch Bestrebungen der Rückbesinnung und Menschen, die sich um die Freilegung der verschütteten Potenziale kümmern.

Was ist unter «einfachem Singen» zu verstehen?
Grundsätzliche Regel: Es ist unerheblich, welche Lieder man singt, ob Volkslieder, Pop, Klassisches oder ob man lediglich Töne erklingen lässt. Wichtig ist vor allem, dass das Singen Freude macht und in einer entspannten, spielerischen Haltung geschieht.

Sind die Wirkungsmöglichkeiten des Singens wissenschaftlich erklärbar?
Ja, es geht vor allem um neurobiologische Prozesse. Beim Singen werden im Gehirn verstärkt Glückshormone ausgeschüttet, zum Beispiel das Serotonin. Gleichzeitig werden Stresshormone verstärkt abgebaut, so etwa das Adrenalin. Die Produktion von Melatonin wird angekurbelt. Melatonin ist unter anderem für den Schlaf-wach-Rhythmus zuständig. Auch das Immunsystem wird aktiviert. Die Liste solcher wissenschaftlichen Befunde ist lang. Singen wirkt antidepressiv, fördert eine optimistische Lebenshaltung und aktiviert die Tatkraft. Nachweisbar ist Singen das beste Mittel, um Angst aufzulösen. Die Ausbreitung von Angst – ein globales Problem – fördert die Entwicklung von Erkrankungen. Weil sehr viele Menschen unterschwellig ständig Angst haben, breiten sich Depressionen epidemisch aus. Ganz einfaches Singen stärkt das Selbstvertrauen und das Vertrauen ins Leben. Mich interessiert vor allem, wie Gesundheit entsteht und wie der Mensch selbstverantwortlich seine Gesundheit fördern und erhalten kann. Alles in allem: Singen optimiert die gesunde Funktionsweise unseres Gehirns, fördert die Gesundheit und macht glücklich.

Dann ist es wohl wichtig, dass Mütter und Väter auch schon mit ihren kleinen Kindern singen?
Ich halte dies für sehr wichtig. Der Embryo im Mutterleib lauscht schon vom vierten Monat an, wenn die Mutter singt – nachweislich wirkt sich dies positiv auf die Hirnentwicklung des Kindes aus. Weiter zeigt eine breit angelegte Untersuchung, dass sich singende Kinder auf allen Ebenen deutlich besser entwickeln als jene, die nicht singend mit dem Klang ihrer Stimme in Kontakt kommen. Singen und Sprechen lernt das Kind am Vorbild von Erwachsenen.

Hat das einfache Singen auch für alte Menschen eine Bedeutung?
Wie im ganzen Lebensverlauf fördert das Singen in jedem Alter die Gesundheit und macht den Menschen glücklich. Erstaunlich ist das Phänomen, dass alte Menschen, die Symptome einer Demenz aufweisen, nach gemeinsamem Singen während einer Weile erstaunlich klar sind und ihre Kinder, die ihnen zuvor fremd gewesen waren, wiedererkennen.

Was antworten Sie jemandem, der Ihnen sagt «Ich kann doch gar nicht singen»?
Jeder Mensch kann singen, und zwar so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und jeder Mensch kann schon mit einfachen Melodien oder Tonfolgen im Alltag jenseits von Leistung oder Kunstanspruch mit Singen sein Wohlbefinden steigern oder Trauer bewältigen, Stress abbauen und negative Gefühle auflösen. Das einfache, spontane Singen ist im Trubel unseres Lebens weitgehend verloren gegangen oder vergessen worden.

Chorsingen könnte diesen Mangel ausgleichen und wäre somit empfehlenswert?
Singen im Chor hat selbstverständlich ebenfalls die vorhin erwähnten positiven Auswirkungen auf die Gesundheit. Allerdings nur in dem Masse, wie sie nicht durch Leistungsstress reduziert oder sogar zunichte gemacht werden.

Wie kann jemand, der noch nicht mal unter der Dusche oder im Bad singt oder dem ein schwieriges Lebensereignis die Stimme «verschlagen» hat, einen Zugang zum Singen finden?
Wer möchte, kann sofort mit dem einfachen Singen beginnen und spüren, wie es wirkt. Es geht dabei darum, sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes ohne Wertung interessiert und zugeneigt zu «erhören». In der Regel wird dies recht spannend. Es lässt sich schon eine Wirkung mit einem einzigen Ton erzielen, den man über die Vokale A-E-I-O-U immer wieder über tiefe Atemzüge spielerisch langsam erklingen lässt. Spürt man den Schwingungen im Körper nach, ist dies eine Art klingende Meditation. Schon nach zwanzig Minuten kann man die positiven Effekte deutlich wahrnehmen – ein Versuch lohnt sich. Man sollte einzig darauf achten, dass man von niemandem gestört wird und auch niemanden stört.

Ist der Eindruck richtig, dass Sie dem, was Sie als «einfaches Singen» bezeichnen, einen hohen therapeutischen und überdies einen gesellschaftspolitischen Wert beimessen?
Diese Einschätzung ist richtig. Der weltberühmte Geiger Yehudi Menuhin war Schirmherr des von mir gegründeten Netzwerks «Il canto del mondo», einer internationalen Bewegung zur Förderung der Alltagskulturen des Singens. Menuhin bezeichnete das Singen als «die eigentliche Muttersprache des Menschen». Wer sein einfaches Singen entfaltet hat, lebt in der Regel glücklicher, zufriedener und gesünder.

Ist Zufriedenheit eine verlässliche Lebensgrundlage?
Zufriedenheit ist ein eminent wichtiges und hochaktuelles Thema, denn Unzufriedenheit führt zu Ersatzbefriedigungen durch vermehrten und weitgehend unsinnigen Konsum. Dieser Mechanismus wiederum verbraucht Ressourcen in einer Zeit, in der es weltweit darum geht, mit weniger Ressourcenverbrauch zu leben und glücklich zu werden. Eine Gesellschaft, in der die Menschen in ihrem Alltag möglichst oft singen, entwickelt eine deutlich höhere Lebensqualität.

Lebensqualität ohne Umweltbelastung?
Wer singt, tut sich Gutes und verbraucht keine Ressourcen. In diesem Umfeld und in weiteren Bereichen der ressourcenfreien oder ressourcenarmen Lebensgestaltungsmöglichkeiten gibt es noch sehr viel zu entdecken. Zu einer optimistischen Perspektive für die Zukunftsentwicklung gehört die Entdeckung und Entfaltung des Umgangs mit der eigenen Stimme. Im Kern gehört dies zur Realisierung des Menschenrechts auf Bildung.

Weitere Informationen
www.heilsames-singen.de
www.il-canto-del-mondo.de

* Dr. Karl Adamek ist Träger des Bundesverdienstkreuzes, arbeitet freiberuflich als Autor, Singer-Songwriter und Kursleiter.