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Achromatopsie: Farbenblindheit und Alltagserfahrungen

Das pastellfarbene Gastspiel des Regenbogens vor düsteren Gewitterwolken oder das bunte Treiben beim Fastnachtsumzug: Das sind nachhaltige visuelle Eindrücke, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind. Doch wie kommen Farbenblinde mit ihrer Situation klar?

Gleich vorweg: Farbenblind ist nicht gleich farbenblind! Umgangssprachlich verwenden wir diesen Begriff meist fälschlicherweise für die nicht so selten auftretende Rot-Grün-Sehschwäche. Mit dieser Form der angeborenen Farbfehlsichtigkeit leben schätzungsweise etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Aus genetischen Gründen sind rund neunzig Prozent davon Männer. Die Betroffenen haben Mühe, Rot und Grün zu unterscheiden, weil beide Farben als unterschiedliche Braunabstufungen wahrgenommen werden. Abgesehen von diesem Handicap ist das Sehvermögen normal.

Eine echte Farbenblindheit ist mehr als Farbfehlsichtigkeit

Ganz anders liegt der Fall bei einer echten Farbenblindheit, die in der Fachsprache als Achromatopsie bezeichnet wird. Die Erkrankung ist sehr selten und tritt nur etwa bei einem von fünfzigtausend Menschen auf. Betroffene können keine Farben, sondern nur viele verschiedene Graustufen zwischen Schwarz und Weiss unterscheiden. Das liegt daran, dass auf der Netzhaut des Auges aufgrund eines genetischen Defekts entweder keine oder nicht funktionstüchtige Zäpfchen vorhanden sind. Da die Zäpfchen aber nicht nur für das Farbsehen, sondern auch für das scharfe Sehen bei hellem Licht verantwortlich sind, leiden die Betroffenen zusätzlich unter einer massiv eingeschränkten Sehschärfe, die nur rund zehn Prozent des Normalen beträgt.

Die Stäbchen auf der Netzhaut, die für das Sehen in der Dämmerung und Schwarz-Weiss-Sehen zuständig sind, funktionieren hingegen normal. Bei hellem Tageslicht werden sie jedoch so sehr überbelastet, dass daraus eine extreme Lichtempfindlichkeit (Photophobie) resultiert. Je heller es ist, desto verschwommener werden die Konturen der Gegenstände wahr-genommen. Deshalb wird die Erkrankung manchmal als «Tagblindheit» bezeichnet. Typisch ist das Augenzittern (Nystagmus), ein unkontrollierbarer Reflex, der zum Beispiel entsteht, wenn das Auge versucht, einen bestimmten Punkt zu fokussieren.

Hilfsmittel im Achromatopsie-Alltag

Achromatopsie ist eine angeborene Erkrankung der Netzhaut. Bis heute ist leider keine Therapie oder Operation bekannt, die diese Störung beheben könnten. Momentan wird an einer Gentherapie geforscht. Vermutlich werden, wenn überhaupt, nur spätere Generationen davon profitieren. Betroffenen bleibt daher nichts anderes übrig, als sich den gegebenen Umständen so gut wie möglich anzupassen.

Eine Kantenfilterbrille, die auch vor seitlich einfallendem Licht schützt, ermöglicht es, sich bei Tageslicht besser zurechtzufinden. Sie verringert das Blenden und verstärkt die Kontraste für ein etwas besseres Sehen. Zur Erhöhung der Sehschärfe gibt es Vergrösserungshilfen wie Lupen oder Lupenbrillen, die zum Beispiel beim Lesen eingesetzt werden können. Auch das Smartphone wurde zu einem guten Hilfsmittel: Damit können zum Beispiel Fotos von Strassennamen gemacht und grossgezoomt werden. Selbst elektronische Farberkennungsgeräte existieren auf dem Markt. «Aber Farben bedeuten mir nichts», bemerkt Cornelia Wyss, «ich lernte, dass Wiesen grün sind, der Himmel blau und Wolken weiss. Im Alltag sind Farben für mich aber absolut unwichtig, sogar wenn ich ab und zu mal ein Aktionsschild im Laden verpasse!»


Farbenblinde leiden unter einer
massiv eingeschränkten Sehschärfe,
die nur rund zehn Prozent des Normalen beträgt

Weder trist noch farblos

Sicher ist es nicht immer einfach für einen farbenblinden Menschen, sich in unserer farbigen Welt zurechtzufinden. Man denke nur an die vielen Farbreferenzen, mit denen wir täglich so vieles umschreiben: Das Schild neben dem roten Auto, das blaue Buch im Regal oder das Kind mit der gelben Jacke sind alles Beschreibungen, mit denen Menschen mit einer Achromatopsie nicht viel anfangen können. Das unscharfe Sehen verursacht zudem viele Unsicherheiten: Steht dort hinten eine Person oder ist es nur ein Strauch? Welche Busnummer biegt gerade um die Ecke? Was steht auf dieser Anzeigetafel?

«Für mich bedeutet das jedoch nicht, dass die Welt um mich herum nicht schön ist. Ich finde blühende Bäume und Wiesen oder einen Sonnenuntergang ebenfalls etwas Wunderbares», erzählt Cornelia Wyss. «Da gefallen mir besonders die starken Kontraste.» Sie geht gerne nach draussen, auch wenn die Sonne scheint. Sie geniesst dann ihre warmen Strahlen. Als trist und farblos empfindet sie weder ihre Umgebung noch ihr Leben.

Weitere Informationen

  • Auf ihrer sehr persönlichen Website hat Cornelia Wyss viele Daten und Fakten zum Thema Achromatopsie sorgfältig zusammengetragen. Ebenfalls ist dort ein Forum für Betroffene und Angehörige zu finden: farbenblinde.ch
  • Fundiertes und detailliertes medizinisches Fachwissen zum Thema vermittelt zusätzlich die Website der deutschsprachigen Selbsthilfegruppe für Achromaten (Menschen mit einer Farbenblindheit) unter: achromatopsie.de

Stationen eines Lebens mit Achromatopsie

Cornelia Wyss beschreibt einige Ereignisse und Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend folgendermassen:

  • Als ich acht Wochen alt war, bemerkten meine Eltern, dass etwas mit meinen Augen nicht in Ordnung war, weil sie sich immer hin und her bewegten und ich die Augen im Hellen zukniff.
  •  Sie gingen mit mir zu verschiedenen Ärzten, aber keiner fand heraus, was ich für eine Augenkrankheit hatte. Erst viel später konnte die Diagnose gestellt werden.
  • Während der Schulzeit ergaben sich immer wieder Probleme, sei es durch zu wenig Hilfestellungen durch die Lehrer oder durch Hänseleien der Schulkameraden.
  • Als Kind dachte ich immer, ich sei dreifach geschädigt: durch sehr schlechtes Sehvermögen, durch mein Unvermögen, Farben zu unterscheiden, und durch die starke Blendempfindlichkeit. Dass diese Dinge alle zusammengehören, war mir damals nicht bewusst.
  • Die Berufswahl gestaltete sich als sehr schwierig. Viele der Berufe, die ich gerne erlernt hätte, waren mit meiner Sehbehinderung nicht möglich. Alternativen wurden mir keine aufgezeigt.
  • Im Alter von 16 Jahren verbrachte ich ein Jahr in einer betreuten Wohngruppe mit anderen sehbehinderten Jugendlichen in der Ostschweiz. Endlich war ich nicht mehr die Schwächste, wurde nicht mehr gehänselt, auf meine Bedürfnisse wurde eingegangen und mein Selbstvertrauen wuchs stetig.
  • Mit 19 Jahren entdeckte ich zufällig das Buch «Die Insel der Farbenblinden» von Oliver Sacks. Ich las es in einem Zug durch. Es war überwältigend: Endlich hörte ich davon, dass es noch andere wie mich gibt. Das Gefühl war unbeschreiblich, fast so, wie wenn man von einer langen Reise endlich nach Hause kommt.
  • Ich entschloss mich für eine zweijährige Lehre zur hauswirtschaftlichen Betriebsangestellten in einem Blindenaltersheim. Dabei bemerkte ich meine Begabung im Umgang mit anderen Menschen. Ich machte deshalb eine Zweitausbildung im Behindertenbereich.
  • Diese Ausbildung an der Fachschule für Sozialpädagogische Berufe in Bremgarten beendete ich im Jahr 2000 erfolgreich.