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Depressionen erkennen und behandeln

Etwa jeder fünfte Mensch leidet einmal im Leben an einer Depression. Die Psychiaterin Katja Cattapan erklärt im Interview, welche Ursachen und Symptome Depressionen haben können und welche Therapien hilfreich sind.

Welche Rolle spielen das Geschlecht, das Alter, der Beruf und der soziale Status bei der Entwicklung einer Depression?

Prof. Dr. med. Katja Cattapan: Junge Mädchen und Frauen sind deutlich häufiger von Depressionen betroffen als Jungen und Männer. Wenn es um schwere Formen dieser psychischen Krankheit geht, besteht hingegen kein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Eine Depression kann in jedem Alter auftreten. Ein Viertel der Betroffenen erkrankt bereits vor dem 18. Lebensjahr. Bei der Ersterkrankung sind Patientinnen und Patienten im Durchschnitt 30 Jahre alt. Menschen mit geringer Bildung, tieferer beruflichen Position und tieferem Einkommen, Arbeitslose oder Menschen, die allein leben oder wenig soziale Unterstützung haben, sind von der Krankheit besonders häufig betroffen. Ein guter Freundeskreis, eine stabile Paarbeziehung oder eine Familie, in der man sich aufgehoben fühlt, sind Schutzfaktoren.

Prof. Dr. med. Katja Cattapan
Prof. Dr. med. Katja Cattapan
ist stellvertretende Ärztliche Direktorin und Chefärztin am Sanatorium Kilchberg

Welche Auslöser können zu einer Depression führen?

Da gibt es ganz viele. Oft spielen mehrere Faktoren zusammen, die biologischer, psychischer und/oder sozialer Natur sein können. Mögliche Ursachen sind körperliche Beschwerden, Mehrfachbelastungen im Alltag und fehlender Ausgleich, Konflikte und Probleme im Umgang mit anderen Menschen, hormonelle Veränderungen, Dunkelheit in den Wintermonaten oder belastende Lebensereignisse wie zum Beispiel der Verlust des Partners oder der Umzug ins Altersheim. Depressionen können sich aber auch im Zusammenhang mit einer Angststörung oder anderen psychischen Erkrankungen entwickeln.
Symptome einer Depression können darüber hinaus im Zusammenhang mit körperlichen Problemen wie einer Schilddrüsenunterfunktion auftreten. Eine ärztliche Untersuchung ist auf jeden Fall sinnvoll.

Wie äussert sich eine Depression?

Betroffene fühlen sich innerlich leer, verlieren Interesse an vielem, sind niedergeschlagen, antriebslos und haben keine Energie. Hinzu kommen häufig Schlafprobleme, Konzentrationsstörungen, Appetitlosigkeit, Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit. Menschen, die an einer Depression leiden, sehen pessimistisch in die Zukunft und sind hoffnungslos. Einige haben Suizidgedanken. Von einer Depression spricht man, wenn die Symptome mindestens zwei Wochen lang andauern.

Weshalb ist die Krankheit mit einem Stigma behaftet?

Wer die Krankheit nicht selbst erlebt hat, kann schwer nachvollziehen, weshalb sich Betroffene zurückziehen und selbst für banale Alltagshandlungen keine Energie mehr haben. Aussenstehende denken dann oft, warum sie oder er sich nicht einfach zusammenreissen könne. Für Betroffene gestaltet sich der Kontakt zu anderen Menschen schwierig, sie ziehen sich immer mehr zurück. Menschen mit einer depressiven Gemütslage werden vom Umfeld oft als belastend wahrgenommen. Die Interaktion mit depressiven Menschen ist meist nicht einfach. Häufig entsteht ein Teufelskreis.
Ich stelle aber fest, dass die Stigmatisierung von Depressionen im Vergleich zu anderen psychiatrischen Erkrankungen dank verstärkter Aufklärung in den letzten Jahren abgenommen hat.

Wie lange geht es im Durchschnitt, bis sich Betroffene Hilfe holen?

Das ist schwierig zu sagen. In der Literatur liest man davon, dass nicht selten zehn Jahre vergehen, bis sich Menschen mit einer Depression an ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt, an eine psychiatrisch oder psychologisch ausgebildete Fachperson oder an ein Ambulatorium einer psychiatrischen Institution wenden.

Warum ist es wichtig, eine Depression zu behandeln?

Eine unbehandelte Depression kann sich zu einer chronischen Krankheit entwickeln, die mit Veränderungen der Hirnstruktur einhergeht. Hält eine Depression länger an, ist sie oft schwieriger zu behandeln und kann gravierende soziale Folgen für Betroffene haben. Eine frühzeitige Therapie bringt die besten Erfolge. Depressionen sind gut behandelbar.

Welche Therapien werden eingesetzt?

Heute steht uns eine sehr breite Palette von Behandlungen zur Verfügung, die auf biologischer, psychologischer und/oder sozialer Ebene ansetzen.
Sehr häufig werden Medikamente und Psychotherapie eingesetzt. Betroffene müssen wissen, dass nicht alle gleich gut auf jedes Medikament ansprechen. Zeigt ein Medikament innerhalb von zwei Wochen keine grosse Wirkung, empfehle ich Betroffenen, die behandelnde Fachperson zu kontaktieren. Manchmal braucht es einen Wechsel auf einen anderen Wirkstoff oder andere Therapien. Bei leichten Depressionen sind Medikamente oft nicht angezeigt.
Biologische Therapien, wie zum Beispiel eine Licht- oder Wachtherapie oder eine Hirnstimulation, können ebenfalls erfolgreich sein. Viele Betroffene profitieren von Bewegung und Sport sowie sozialer Unterstützung.
Wichtig ist, dass Therapien immer auf den Fall zugeschnitten und Betroffene bei der Wahl einbezogen werden. Heute haben wir die Situation, dass Menschen mit einer leichten Depression oft medikamentös überbehandelt und Menschen mit einer schweren Depression unterbehandelt werden. Das muss sich ändern.

«Von einer Depression spricht man,
wenn die Symptome mindestens
zwei Wochen lang andauern.»

Prof. Dr. med. Katja Cattapan

Können alternativmedizinische Massnahmen helfen?

Ja, auf jeden Fall. Als wirksam haben sich pflanzliche Medikamente wie das Johanniskraut oder Achtsamkeitsübungen bei leichten und mittelschweren Depressionen erwiesen. Johanniskraut kann jedoch auch Nebenwirkungen haben. Bei schweren Depressionen braucht es eine psychiatrische Behandlung.

Was können Angehörige von depressiven Menschen tun?

Sie sollen die Krankheit ansprechen und können für einen strukturierten Alltag sorgen, Betroffene unterstützen, zum Beispiel beim Suchen von professioneller Hilfe. Angehörige benötigen viel Geduld.

Was schützt vor Depressionen?

Hilfreich sind ein gutes soziales Netz und ein Ausgleich, der es ermöglicht, die Batterien immer wieder zu laden.