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Fit um jeden Preis?

Zunehmender Leistungsdruck oder Prüfungsstress kann an die Grenzen des Erträglichen gehen – und manchmal auch darüber hinaus! Manche Menschen greifen dann zu Pillen, die ihre Leistung und Belastbarkeit steigern sollen. Doch helfen diese Mittel tatsächlich?

Reto studiert Pharmazie im sechsten Semester. Dieses Studium entspricht ihm sehr gut, da hier sowohl medizinisches Wissen als auch Natur­wissenschaften gelehrt werden. Eine äusserst spannende Kombination! Doch die Anforderungen sind enorm: ein bis zum Rand aus­gefüllter Stundenplan, immer wieder anspruchsvolle Prüfungen und kaum mehr Zeit, zwischendurch noch zu verschnaufen. Es fiel ihm zunehmend schwerer, auf Dauer mit der Stresssituation klarzukommen. Da versuchte er es mit Tabletten, die angeblich das Gehirn zu geistigen Höhenflügen anregen sollen …

Aufputschen oder beruhigen?

Durchhalten, konzentrieren und wach bleiben – oder aber runterkommen, ruhiger werden und schlafen: Mithilfe entsprechender Medikamente ist es möglich, sich geistig fit und angenehm entspannt zu fühlen. Zur Leistungssteigerung werden hauptsächlich die Wirkstoffe Methylphenidat sowie seltener Modafinil missbraucht. Methylphenidat, besser unter dem Namen Ritalin bekannt,
gehört zu den Betäubungsmitteln und darf nur unter besonders strengen Auflagen verschrieben werden. Methylphenidat wird beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) und beim Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) eingesetzt. Der Wirkstoff vermindert die Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit ebenso wie die Impulsivität und Hyperaktivität. Modafinil wird vor allem bei Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, die sich oft durch übermässige Tagesschläfrigkeit mit plötzlich auftretendem Schlafdrang äussern, verschrieben. Für die Anwendung an Gesunden sind beide Medikamente nicht zugelassen.

Bedenklicher Arzneimittelcocktail

Wer Medikamente zur Leistungssteigerung einnimmt, hofft wacher, konzentrierter und effizienter zu werden. Um dennoch schlafen zu können, werden neben den Aufputschmitteln deshalb manchmal auch Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingenommen. Diese Medikamente helfen genauso bei Nervosität und Prüfungsangst. Vor allem in den USA ist es vielerorts schon fast gesellschaftsfähig, sich mithilfe von Medikamenten zu optimieren: Zusammen mit den leistungssteigernden Medikamenten werden dort nicht selten Antidepressiva und Beruhigungsmittel eingenommen – mit höchst bedenklichen Folgen für die Gesundheit. In der Schweiz ist der Missbrauch von Medikamenten als Hirndoping weit weniger verbreitet als in den USA.

Die unsachgemässe Anwendung von Medikamenten
kann teilweise gefährliche Nebenwirkungen zeigen.

Hellwach und bester Laune

Bei den Prüfungsvorbereitungen wurde Reto angst und bange. Wie sollte er in der kurzen Zeit so viel Lernstoff bewältigen können? Könnte die Lösung Methylphenidat sein? Die Wirkung war verblüffend: Er konnte sich besser konzentrieren, scheinbar schneller begreifen und vor allem bis spät in die Nacht lernen, ohne dass er müde wurde. «Ich war hellwach und dazu bester Laune. Zudem war ich motiviert und wissensdurstig.» Ein gutes Gefühl, das hingegen nach durchlernter Nacht nachliess und ihn dazu verleitete, es nicht bei einer Tablette zu belassen. Keine gute Idee! «Mit der Zeit wurde ich vorsichtiger und nahm das Medikament weniger häufig. Ich achtete zusätzlich mehr darauf, in weniger stressigen Zeiten trotzdem genügend Schlaf zu bekommen.»

Alleskönner Methylphenidat?

Für Menschen, die nachweislich an ADS oder ADHS erkrankt sind, ist Methylphenidat oft eine grosse Hilfe. Der Wirkstoff wird vornehmlich im Kindesalter, wenn die Erkrankung diagnostiziert wird, verschrieben. Die Tabletten helfen den Betroffenen, ihre Aufmerksamkeit besser zu fokussieren, sich auf das Wichtige zu konzentrieren, in bestimmten Situationen ihr Temperament oder ihre Hyperaktivität zu zügeln. Eine medikamentöse Therapie mit Methyl­phenidat bei ADHS sollte immer zusammen mit einer spezifischen Psychotherapie stattfinden und unterstützende Verhaltensmassnahmen mit einbeziehen. Bei richtiger Anwendung des Medikaments sind meist keine ausgeprägten unerwünschten Wirkungen zu befürchten. Bei unsachgemässem Gebrauch können hingegen Nebenwirkungen vermehrt auftreten: Am häufigsten sind dies Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Nervosität, erhöhter Blutdruck und Puls oder verminderter Appetit.

Studie an Universitäten

Eine gross angelegte Studie unter 33 000 Studierenden aus Deutschland, die in erster Annäherung auch auf die Schweiz übertragbar ist, wurde vor einigen Jahren an verschiedenen Hochschulen durchgeführt. Sie zeigt: Die Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten ist – mindestens unter Studierenden – nicht allzu stark verbreitet. Ein Prozent der Befragten gab an, regelmässig zu diesen Mitteln zu greifen, immerhin rund vier Prozent tun dies ab und zu. Etwa fünf Prozent erklärten, in Stress- oder Prüfungssituationen gezielt auf (durchaus «legale») pflanzliche oder homöopathische Arzneimittel, auf Vitaminpräparate oder koffeinhaltige Getränke zurückzugreifen.
Bei der Frage, mit welchem Ziel Hirndoping eingesetzt werde, stellte sich heraus, dass rund die Hälfte der Anwender die Minderung von Nervosität und Lampenfieber bezwecke und je rund ein Drittel Leistungssteigerung, Schmerzbekämpfung und die bessere Bewältigung von Leistungs- und Konkurrenzdruck suche (Mehrfachnennungen waren möglich). Interessant war ebenfalls die Frage nach den Bezugsquellen für Methylphenidat, das ja unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Über vierzig Prozent der Anwender erhielten das Medikament auf Rezept von Ärzten, die es mit der Diagnosestellung nicht ganz so genau nahmen, etwa gleich viele auf dem Schwarzmarkt und etwa zehn Prozent über Bestellungen im Internet.

Wacher, aber nicht intelligenter

Reto zieht nach rund zwei Jahren Medikamentenmissbrauchs eine eher ernüchternde Bilanz. Im Moment der Einnahme helfe das Medikament sicherlich, kurzfristig wach zu bleiben und sich besser konzentrieren zu können. Um den Effekt dauerhaft nutzen zu können, müsste er jedoch permanent höhere Dosen einnehmen. Das möchte er aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht riskieren. «Ich nehme das Medikament immer noch gelegentlich in Situationen ein, wo mir der ganze Stress über den Kopf zu wachsen droht. Aber ich habe gelernt, auf andere Art mit Leistungsdruck umzugehen.» Zu seinem Stressausgleich gehören Treffen mit Freunden, Sport treiben, Lesen oder Fernsehen und genügend Schlaf. Auch mit natürlichen Produkten, die die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit steigern, hat Reto gute Erfahrungen gemacht.
Aus ärztlicher Sicht wird klar von Dopingversuchen mit rezeptpflichtigen Medikamenten abgeraten. Der Gebrauch von Ritalin und Co. macht nur eines: nämlich wach! Er ersetzt nicht das reguläre Lernen, verbessert nicht das Erinnerungsvermögen und macht auch keineswegs intelligenter.